Das kleinbäuerliche Leben in Estland.

Die Fährfahrt, also der Auftakt in mein Estland Abenteuer, war schon völlig verrückt.
Die Überfahrt dauerte 30 Stunden und so hatte ich auch eine Koje auf dem Schiff. Eine, die ich mir mit einer anderen Frau teilte. Wie das nun mal so ist, kommt man ins Gespräch. Als ich erzählte, ich gehe nach Estland um zu Arbeiten hat sie mich ganz komisch angeguckt und meinte: „Ich bin gebürtige Estin. Alle Esten die können, gehen ins Ausland um dort mehr Geld zu verdienen. Warum zum Geier gehst du dann nach Estland?!“ Ich musste lachen und erklärte ihr meinen Erntehelferjob. Es stellte sich heraus, dass sie seit bereits 20 Jahren auf einem deutschen landwirtschaftlichen Betrieb arbeitet, mit den Begriffen konnte sie also etwas anfangen.
Ich fragte nach wo sie denn arbeitet. „Schleswig-Holstein, Bönebüttel, falls dir das etwas sagt.“ Ich überlegte ganz kurz und meinte, dass ich auf einem Betrieb dort vor ein paar Jahren ein kurzes Praktikum gemacht habe. So wie sie mich anguckte wusste ich, dass wir den gleichen Betrieb meinten. Ich fragte nach ihrem Namen. „Janne“. Und jetzt guckte ich sie so an, wie sie mich vorher. „Ich auch“, sagte ich.
Wir waren sichtlich erstaunt und verblüfft über so viele Zufälle gleichzeitig. Auch unsere Zielorte in Estland lagen bloß 80 km auseinander.

Zwei Frauen stehen auf Deck und machen ein Selfie
Durch Zufall habe ich Janne, meine Namensvetterin, auf dem Schiff nach Estland getroffen.

Versteckte Häuser spiegeln den Charakter der Esten wieder

Den ersten Schlechtwettertag, an dem wir auf meinem Erntehelfer Betrieb nicht weiter dreschen konnten, bin ich dann zu Janne gefahren. Die Straßen sind übrigens echt gut. Es gibt einige Schotterstraßen, aber auch die lassen sich gut befahren.
„Links liegen dann irgendwann Kühe auf der Weide. Da musst du auch links abbiegen und die Auffahrt immer weiterfahren“, lautete die Weg Beschreibung von Janne. In Estland sind die ländlichen Häuser meist versteckt. Was in Deutschland gepflegte Buchsbaumhecken um die Grundstücke sind, ist es in Estland eben ein kleiner Wald. Das spiegelt ein wenig den Charakter der ländlichen Bevölkerung. Sie beobachten gerne alles, wollen aber bloß nicht angesprochen werden. Englisch sprechen auch nur die wenigsten Menschen, meist die Jüngeren auf dem Land oder eben vermehrt die Städter.

Perfektionismus statt Ungenauigkeit

Janne ist in Estland auf einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen. Aktuell bewirtschaften sie 50 Hektar Land und besitzen 13 Milchkühe. Mit Nachzucht zählen sie 25 Tiere, die das ganze Jahr über draußen auf der Weide sind. Auch in den strengen Wintermonaten. Das Tor zum Laufstall steht stets offen doch es herrscht eine gähnende Leere im Stall selbst. Auf dem Futtertisch liegt Stroh, aber Kühe findet man hier eigentlich nur zur Melkzeit. In einem Anbindestall-Abteil werden sie dann zweimal täglich gemolken. Mariu, Jannes 65-jährige Mutter, melkt sie hier. Mariu ist sehr genau, akribisch und eine Perfektionistin wenn es um das Melken geht. Acht Kühe passen nebeneinander, jede hat ihren festen Stehplatz. Mit drei Melkgeschirre melken sie. Beim Vormelken fängt sie die Milch in der Schleimschale auf und testet sie hinsichtlich der Qualität.
Mariu spricht kein Englisch daher erklärt mir Janne, dass sie auch in Estland monatliche Milchkontrollen machen und Mariu auf den Zellzahldurchschnitt von 50 besonders stolz ist und alles dafür gibt, dass das auch so bleibt.
Obwohl die Kühe nur das fressen, was sie auf der Weide finden (was bei der Trockenheit momentan nicht übermäßig viel ist), im Stall Stroh fressen können und zum Melken jede Kuh eine Ration selbstgemahlenes Getreide versetzt mit Mineralien bekommt, geben sie täglich um die 20 bis 25 Liter Milch. Die Inhaltsstoffe sind dabei alle im grünen Bereich. Für die Milch bekommen sie aktuell 28ct. Abzüglich Transportkosten bleiben dann 25ct über. Das reicht auch bei einem kleinen, überwiegend selbstversorgenden Hof, vorne und hinten nicht aus.

Mariu ist keine gelernte Landwirtin, denn damals gab es den Beruf noch nicht zu erlernen. Das Wissen wurde von der vorherigen Generation übermittelt. Vier Mal im Jahr besucht sie Fortbildungen, die zu immer wieder anderen Themen rund um die Milchviehhaltung stattfinden. Wenn sie dorthin geht, hat sie Anspruch auf Fördergelder der EU welche eine wichtige finanzielle Unterstützung für den kleinen Betrieb ist.
Auf die Frage hin, ob sie oft kontrolliert werden, war Mariu nicht gut zu sprechen. Wie Janne mir übersetzte werden sie jedes Jahr kontrolliert. Manchmal sogar zweimal jährlich. Dabei finden sie nie etwas zu beanstanden. Dennoch stört es sie, dass wiederum andere Betriebe sehr selten bis gar nicht kontrolliert werden.

Zukunft des Betriebes

Wie es mit dem kleinen Betrieb in Zukunft weiter geht, steht noch in den Sternen. Die Milchviehhaltung soll jedenfalls in wenigen Jahren an den Nagel gehängt werden. Sie rechnet sich kaum.
Schon jetzt besamen sie ihre Kühe mit einer Fleischrasse, um anschließend auf Mutterkuhhaltung umzusteigen und Fleisch verkaufen zu können.

Noch gibt es in der Nachbarschaft ein paar Betriebe dieser Größe. Wirklich lohnen tut es sich nicht. Dafür werden andere Ställe größer. 500 bis 1000 Kühe sind neben ausländischen Investoren nicht selten. Die kleinen Betriebe geben auf, viele Menschen wandern in die Städte ab.

Die Landflucht ist sehr präsent.

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